Julia Hagemann
 
 
 
 
Längst habe ich Winterberg, den letzten Vorposten der Zivilisation mit seinen anheimelnden Handarbeitsgeschäften und Sprungschanzen, hinter mir gelassen und sehe mich umzingelt von dunkelgrauen Wolkenmassen und überschwemmten Wiesen.  Bäume stehen dicht und sehr nass rechts und links vom Weg.
Ein letzter Blick auf die Hauptstraße, dann tauche ich nach rechts in die Wildnis ein. Der Pfad ist fast nicht zu sehen, alles ist von der Wasserdampfschicht auf meinen Brillengläsern verdeckt. Verzweifelt halte ich nach Wegmarkierungen Ausschau, es müssen doch welche da sein. Ich atme auf, wann immer ich eine erkenne, die mir bestätigt, dass der schotterige Hang, auf dem ich entlangstolpere, der offizielle Wanderweg sein soll. Steil und unberechenbar ist er und wird nur von den Baumwurzeln zusammengehalten.
Der Sturm bläst mich schließlich auf eine weitere Bundesstraße hinaus und auf einen riesigen, gespenstisch leeren Besucherparkplatz.
 
Und da sehe ich ihn vor mir: den Nordhang des Kahlen Astens. Majestätisch und feucht ragt er vor mir in den regenverhangenen Himmel. In stummer Bewunderung verharre ich einige Augenblicke. Dann reiße ich mich zusammen. Ich kann nicht ewig hier bleiben. Ich muss da rauf.
Ich kämpfe mich an der unbeleuchteten, wie ausgestorben wie ausgestorben zwischen die Tannen geduckten Nordhang-Jause vorbei. Geschlossen natürlich. Die Sessellifte stehen still, über allem liegt Einsamkeit. Und eine Wolkendecke, aus der es unaufhörlich auf mich niederprasselt.
Schon das Geräusch der Tropfen auf der beschichteten Kapuze kann einen Menschen wahnsinnig machen.
Soll ich den Aufstieg wagen - allein, ohne Wanderkarte?
Die, die ich mithabe, ist trocken im Rucksack verstaut, denn es ist nicht meine, und dies ist kein Wetter, um geliehene Wanderkarten auszubreiten.
Bleibt mir nur, mich weiter auf die Wegmarkierungen zu verlassen.
 
Entschlossen tauche ich auf die Stelle des Berges zu, zu dem der Wegweiser mit dem liegenden roten R mich weist. Am Hang kommt mir ein Wildbach entgegen, der meinen Weg als Bett benutzt.
Ein Bett hätte ich jetzt auch gern. Aber es hilft nichts.
Linker Fuß auf dem linken Ufer, rechter Fuß auf dem rechten, dazwischen gurgelnde Wassermassen, die von oben ständig Verstärkung erhalten, so trete ich meinen Aufstieg an. Ich würde Ihnen gern von meiner unnachahmlichen Eleganz erzählen, aber das wäre gelogen. Spagatklettern auf glitschigem Untergrund sieht bei mir nie elegant aus.
Die Temperaturen sind inzwischen um etwa 20°C gefallen; was sich alle wochenlang gewünscht haben, ist ausgerechnet jetzt in Erfüllung gegangen, jetzt ist es mir auch wieder nicht recht.
Der Schlick macht unanständige Geräusche unter meinen Stiefeln.
Glitschend und mit beiden Händen jeden erreichbaren Jungbaum umschlingend kämpfe ich mich weiter nach oben, am Leben gehalten nur von einigen Heidelbeeren, die ein freundlicher Strauch mir zur Verfügung stellt.
Die Luft wird langsam knapp, nicht wegen der Höhe, obwohl ich die Baumgrenze gleich überschreiten werde, sondern wegen des Regens, der so dicht fällt, dass ich mir ein Sauerstoffgerät wünsche.
Weit und breit kein Mensch zu sehen, klar, niemand könnte das hier unbeschadet überleben.
 
Da, die Schuhe sind durch, ich habs geahnt, dass das passieren würde. Nass und kalt schieben sich die leiernden Socken zwischen meine Zehen.
Und das, wo mein Überleben doch von der Ausrüstung abhängt!
Das Regencape, das meinen beneidenswert trockenen Rucksack und mich umflattert, leitet das Wasser ungebremst weiter an meine Hosenbeine, die es wie Verdurstende in sich hineinsaugen.
Mein einziger Trost ist, dass ich als Fußgängerin in dieser Gegend wahrscheinlich nicht Opfer von Eisenbahnanschlägen mit selbstgebastelten Kofferbomben werde.
Allerdings plagt mich trotz der Heidelbeeren inzwischen tobender Hunger, der mir das Blut aus dem Gehirn saugt.
 
Vor mir lichtet sich das Buschwerk, ich stürze auf die helle Stelle zu. Bin ich oben?
Der mit Wegmarkierungen kostümierte Wildbach endet unverhofft auf einer dreispurigen Asphaltstraße, ein Umstand, der meinem Pioniergeist einen empfindlichen Dämpfer versetzt.
Ich bin doch nicht die erste hier.
Trotzdem. Ich gebe nicht auf. So schnell nicht.
Ich überquere die Straße und tauche wieder ins Gebüsch. Es wird nicht besser. Schlick, Tropfen, Modergeruch, Wildbach. Noch nicht einmal mehr Heidelbeeren.
Immerhin treffe ich kein einziges Krokodil auf dem Aufstieg.
Nach einer Zeit, in der ich um ungefähr vierzehn Jahre altere, lasse ich die letzten anständigen Bäume unter mir zurück und sehe ich sie endlich vor mir liegen. Die kahle Kuppe des Kahlen Astens.
Schwer atmend setze ich Fuß vor Fuß für die letzten Meter.
 
Oben. Der Gipfel.
Eine weite Ebene, über die der Wind hinwegtobt, die Heidelbeersträucher zerwühlend.
Fahnenwüchsige Krüppelkiefern schütteln Kaskaden von Wassertropfen aus ihren Zweigen. Eine Menge Heidekraut blüht, so gut es eben kann. Wäre das hier ein Film, würde jetzt mit einem herzzerreißenden Streicherakkord ein Sonnenstrahl aus den Wolken hervorbrechen.
Langsam schiebe ich mir die Kapuze vom Kopf.
Ich habe es geschafft.
Das hier wird in die Geschichtsbücher eingehen.
Jedenfalls in meine eigenen.
Mit klammen Fingern hole ich meine völlig durchnässte Hamburger Flagge aus der Tasche und befestige sie am Zaun der Wetterstation. Schlapp und schwer hängt sie neben einem meteorologischen Informationsblatt, auf dem ich nachlesen kann, dass es für die Jahreszeit viel zu heiß und trocken ist.      
Man kann sich auf nichts mehr verlassen.                                                                        
 
 
JH 7-06
In der Reihe: tollkühne Grenzerfahrungen: Elfi Hentschels Urlaubsberichte
Bei strömendem Regen über den kahlen Asten
Elfi Hentschel schreckt vor nichts zurück
 
Montag, 18. Juni 2007