Julia Hagemann
 
 
 
Sophia Vandergilt hatte Schlafprobleme.
Das ist keinesfalls so zu verstehen, dass sie nicht hätte schlafen können. Sie konnte schlafen. Tagsüber und außerhalb dafür entworfener Möbelstücke.
In der Straßenbahn zum Beispiel schlief sie mit schöner Regelmäßigkeit nach spätestens 90 Sekunden. Auch im Stehen. Manchmal musste sie dann ein paar Stationen wieder zurückfahren. Pech, wenn das länger als 90 Sekunden dauerte. Ihre Lieblingslinie war deshalb die 706, die im Kreis fuhr, da ließ sich viel Nachtschlaf nachholen.
Da sie praktisch veranlagt war, hatte sie schon versucht, ihr Bett auf eine Rüttelplatte zu stellen und dazu eine CD mit Straßenbahngeräuschen abzuspielen. Als das nichts half, montierte sie das Bett senkrecht auf die Apparatur und ließ Tageslichtbirnen brennen. Dann gab sie auf, fuhr täglich einige Runden 706 und verlegte sich aufs Nachtarbeiten. Dass ihre Bilder dadurch bei Kunstlicht besser wirkten als bei Tageslicht, fand sie im Hinblick auf spätere Ausstellbarkeit in Museen eher praktisch.
 
In einer dunklen und stürmischen Nacht Mitte Februar stand sie also gegen halb eins im Atelier, hatte eine Gesualdo-CD auf volle Lautstärke gedreht und warf mit großem Elan und auf lange Übung hindeutender Zielsicherheit aus exakt 4,52 Metern Entfernung mit Acrylfarbe gefüllte Kondome an eine 2x2-Meter-Leinwand. Sie arbeitete gerade an einem Zyklus zum Thema „männliche Zeugungskraft“. Was an Farbe und Gummis kleben blieb, ließ sie dort und bedeckte alles mit weiteren Farbgeschossen. Zwischendurch fuhr sie mit kleinen Spielzeugautos und einem Radiergummi in Form eines Fußballs über das Bild.
Als ihr das Werk ein befriedigendes Zwischenstadium erreicht zu haben schien, wechselte sie die CD gegen eine eigens aufgenommene Klangcollage aus Countrysongs und Bauchtanzmusik und wandte sich der Längswand der Raumes zu. Sie nahm an einer markierten Linie in 9,11 Metern Entfernung davor Aufstellung und begann, mit geschlossenen Augen und bedeutend weniger zielsicher Kondome, die diesmal mit Ölfarbe gefüllt waren, an eine 2,50x3,50-Meter-Leinwand zu werfen, auf der Fragmente des Falkplans von Bagdad klebten. Sie arbeitete immer an mehreren Werkzyklen gleichzeitig, dieser hieß „die Bombardierung Bagdads - männlicher Machtwille und der Kampf um Öl“.
 
Gegen vier fiel ihr auf, dass es aufgeklart hatte und draußen der Vollmond das Land in leuchtende Molke tauchte. Wolkenfetzen, die über die Tiefe des Himmel huschten, verursachten überraschende Stroboskopeffekte. Eine unwiederbringliche Nacht für ein Werk aus dem Zyklus „Nachtschatten“, in welchem sie nächtliche Licht- oder Lichtmangelstimmungen an öffentlichen Orten einzufangen trachtete. Die Idee dazu war ihr gekommen, als sie einen 10-Liter-Eimer schwarzer Acrylfarbe zum halben Preis bekam. Trotz des Düsseldorfer Wetters, das der Freiluftarbeit nicht eben förderlich war, umfasste dieser Zyklus bereits 214 Werke, die sich großartig verkauften, vor allem, seit sie kleine Glühbirnen und Lichtleiter hineinbaute, die sich nach Geschmack an- und ausknipsen ließen.
Die Dianastatue im Benrather Schlosspark hatte sie sich schon lange vorgenommen. Jagdgöttinnen und ihre Darstellung in der bildenden Kunst waren ein Thema, das sie seit Jahren interessierte und das zu dem Werkzyklus „Jagende Frauen - gejagte Frauen“ geführt hatte, in welchem sie Farbtuben auf die Leinwand klebte und anschließend mit Pfeil und Bogen zerschoss. Da diese Sorte Bilder sich jedoch nur mäßig verkaufte, malte sie zwischendurch immer wieder strikt naturalistische Werke, sogar mit Pinsel, und die Dianastatue in zuckender Vollmondmolke erfüllte sie schon im Voraus mit Entzückensschauern. Sie klemmte die Feldstaffelei und den Faltschemel auf den Gepäckträger ihres Hollandrades, baumelte die Farb- und Pinseltasche an den Lenker und radelte gute fünf Minuten bis zu ihrem bevorzugten, eigens angelegten Loch im Zaun, drang widerrechtlich in den erwartungsvoll schweigenden Park ein und näherte sich der Statue gegen vier Uhr fünfundzwanzig.
Schwarz ragten die Buchen dahinter auf und schienen sie streng zu mustern. „Schimpft ihr nur“, wollte sie gerade sagen, als ein ungewohntes Geräusch sie innehalten ließ. Der Mond war gerade wieder hinter einem Wolkenfetzen verschwunden, und es war fast völlig dunkel. Die Erde duftete feucht und grasig, etwas, vielleicht eine Fledermaus, flog dicht über ihren Kopf. Jenes Geräusch aber war keins, das in einen nächtlichen Schlosspark gehörte. Es war rauh, gleichmäßig schabend, rhythmisch raspelnd - jemand sägte. Bei fast völliger Dunkelheit. Und zwar kein Holz. Jetzt ließ die Wolke den Mond wieder frei, und Vandergilt sah, wie sich vor dem leuchtenden Marmorweiß der Dianastatue eine schwarzgekleidete Gestalt abhob, die sich metrisch schwankend hin- und herbewegte. Sie packte ihre Staffelei fester und spurtete lautlos über die taufeuchte Wiese.
„Verbrecher!“, schrie sie, als sie nur noch zwei Meter weg war, der in sein Werk versunkene Säger fuhr zusammen und herum und wurde noch in der Bewegung von der kraftvoll geschwungenen Staffelei von den Füßen gefegt.
 
Als Hartmut Hänchen wieder zu sich kam, fand er sich, Hände und Füße mit farbverschmierten , nach Terpentin stinkenden Lappen gefesselt, im schlammigen Gras liegen. Äußerst ungemütlich. Ihm gegenübersaß auf einem Faltschemel eine ältere Frau vor einer Staffelei und malte ihn mit grimmiger Miene.
„Ich werde es Jagdgöttin und Beute nennen.“
Der Säger wand sich madengleich, um sich aus dieser peinlichen Lage zu befreien, aber die Lappen hielten. „Geben Sie sich keine Mühe“, sagte  die Frau, „ich nehme nur Leinenlappen, die sind ziemlich haltbar. Und halten Sie still, wenn ich Sie male.“
„Sie haben mich nicht zu malen“, protestierte Hänchen. „Binden Sie mich sofort los! Das ist ja ungeheuerlich.“
„Halten Sie die Klappe und nerven Sie mich nicht. Wer sind Sie überhaupt? Und was hatten Sie mit der Diana vor?“
„Hartmut Hänchen“, sagte der am Boden liegende. „Sägeblätter en gros und en detail. Fuchsschwänze, Stichsägeblätter, Laubsägeblätter, Dekupiersägeblätter, Kreissägeblätter, Gehrungs -“
„Verschonen Sie mich! Haben Sie für das Zeug keine bessere Verwendung, als stadteigene Kunstwerke zu zerstören? Und überhaupt, per Hand Carraramarmor sägen zu wollen. So eine Idiotie.“
„Mit meinen Sägeblättern geht das“, sagte  Hänchen. Ich bin schon viertel durch und habe erst eine halbe Stunde gebraucht. “
„Und wozu?“
„Das geht Sie einen feuchten Dreck an!“
„Feuchten Dreck können Sie haben. Von mir aus noch stundenlang. Für Leute, die mutwillig Kunstwerke zerstören, habe ich keinerlei Verständnis. Also?“
 Hänchen schwieg eisern und hielt in dieser Zeit mustergültig still. Ihm wurde eiskalt am Boden nach der anstrengenden Sägerei, und seine Nase begann zu laufen.
Nach einer halben Stunde lehnte die Malerin sich befriedigt zurück und goss sich dann aus einer Thermosflasche etwas ein, das eine Dampfwolke in die Nachtluft schickte.
Hänchen stöhnte leise, nieste dreimal und sagte dann: „Also gut. Sie haben gewonnen. Ich erklärs Ihnen. Lassen Sie mich dann gehen?“
„Kommt drauf an.“
„Wer glauben Sie dass Sie sind, der Papst?“
„Habe ich mich nicht vorgestellt? Sophia Vandergilt, Malerin ohne besondere Vorliebe für Kunstvandalen und als außerordentlich hartherzig bekannt. Also?“
„Ach Scheiß drauf!“, sagte Hänchen. „Ich brauch Geld. Jede Menge. Mir sind zwei große Baumarktketten abgesprungen, und ich sitze da mit meinen Sägeblättern. Die Firma ist kurz vor dem Zusammenbruch, und mir musste unbedingt etwas einfallen, um sie zu retten. Mensch, ich liebe die Sägeblattproduktion, das ist echt mein Ding, ich will da nicht Konkurs anmelden und woanders wieder von vorn anfangen, womöglich noch Hartz-IV-Empfänger werden oder kellnern oder so, ich will meine Firma retten, und da brauch ich 300 000,- Euro. Möglichst schnell. Die Banken haben schon alle abgelehnt, mir noch mal aus der Klemme zu helfen, glaubt ja keiner, dass bei der Wirtschaftslage gerade die Sägeblattnachfrage wieder steigt. Versteh ich gar nicht, Mensch, haben Sie sich so Sägeblätter mal aus der Nähe angesehen? Allein die verschiedenen Stahlsorten sind schon  die absolute Wucht, stark, elastisch, nicht kaputtzukriegen, jede einzelne genau auf den Verwendungszweck hin legiert, haben sie mal gesehen, wie sich das Licht in einem richtig guten Fuchsschwanz fängt? Dieser kühle Schimmer, diese mikroskopisch kleinen Schlieren und Farbveränderungen, die man da sehen kann! Und die verschiedenen Zähnungen! Ich will Sie da jetzt nicht mit Einzelheiten langweilen, aber da könnt ich Stunden drüber erzählen. Ich hab sogar schon Spezialsägen entwickelt, eine speziell für Knochen, sägt absolut splitterfrei, und die da für Marmor ist auch von mir. Nee, Sägeblätter, das ist echt das Tollste. Und meine Firma ist klasse, allererste Qualität und so, aber Baumärkte, Sie wissen ja. Bibergünsig. Hier spricht der Preis. Und so weiter. Die nehmen jetzt alle so chinesische Plagiatware, wo der Schimmer aufgedruckt ist, und die beim ersten Ast brechen. Ich konnt mich jetzt mit einem superflexiblen Bandsägeblatt mit extra feiner Zähnung aufhängen oder die Sache irgendwie selbst in die Hand nehmen. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie ich gerade auf das Ding mit den Statuen gekommen bin, wahrscheinlich einfach wegen der Machbarkeit. Die Parks werden ja nicht bewacht, weil kein Mensch darauf kommt, dass jemand Marmorstatuen klaut. Und ich habe gehört, dass amerikanische Sammler für sowas hervorragend zahlen.“
„Das ist ja sehr rührend“, sagte Vandergilt. „Darf ich fragen, wie Sie die Diana abtransportieren wollten? Und wohin?“
„Da geht Sie nichts an. Außerdem bin ich kräftiger, als ich im Moment aussehe.“
„Na bravo! Sie sollten sich einweisen lassen. 300.000,- kriegen Sie nie für die Figur, selbst wenn Sie einen Ihrer fiktiven amerikanischen Sammler finden. Ich schätze sie auf 15.000,- maximal. Sie sollten besser recherchieren, Sie Hobbyverbrecher. Wenn noch ein Hehler dazwischensitzt, reicht es höchstens für 7500,-. Und dafür das Risiko? Spielen Sie lieber Lotto, gehen Sie auf den Strich, werden Sie Minister - alles ist besser als Ihre Schnapsidee. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst weitermalen. Es wird gleich hell, das verdirbt die Lichtstimmung. Außerdem kann ich dann endlich schlafen gehen.“
Sie stellte den Teebecher weg, ohne Hänchen etwas anzubieten, und griff, eine Tenorarie aus „La Bohème“ summend, wieder zum Pinsel.
 
* * *
 
 
 Justizvollzugsanstalt Derendorf, 14.5.05
 
Sehr geehrte Frau Vandergilt,
 
das war eine  nette Idee von Ihnen.
Ich gebe zu, dass ich erst nicht so gut auf Sie zu sprechen war, als Sie mich da im Regen liegenließen und ich am Morgen von den Parkwächtern gefunden wurde, das Sägeblatt mit meinen Fingerabdrücken noch mitten in der Diana.
Ich war dann so erkältet, dass ich noch nicht mal zur Verhandlung konnte.
Drei Monate wegen Sachbeschädigung und versuchten Kunstraubs.
Aber dass Sie von der ganzen Belohnung, die die städtische Kunstversicherung Ihnen gezahlt hat, Lottoscheine für mich gekauft habe, das war große Klasse von Ihnen. Wenn auch riskant. Aber sicher haben Sie die Schlagzeilen schon gesehen. KNACKI KNACKT JACKPOT! Sie haben meine Firma gerettet, dafür sitz ich gern mal drei Monate.
Die nächsten Aufträge kommen auch, eine holländische Baumarktkette namens Van der Gilt (lustiger Zufall, was?) hat jede Menge bestellt, und in den ersten Wochen hier, als es noch so düster aussah, habe ich angefangen, in der Gefängniswerkstatt im Rahmen der wöchentlichen Kunsttherapie Skulpturen aus Sägeblättern zu bauen. (Unter Aufsicht darf man das.) Sie stießen auf großes Interesse, und ich habe schon einige davon verkauft, unter anderem an den Gefängnisdirektor.
Vor allem mein Werkzyklus „Weibergebisse“ aus Betonsägeblättern und diamantgehärteten Stahlsägen erfreut sich hier bei meinen Mitinsassen großer Beliebtheit. Manch einer hat schon seinen Sparstrumpf geplündert, um sich eins meiner Kunstwerke in die Zelle stellen zu können. Es ist rührend.
Sie haben, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, meinem Leben eine neue Wendung gegeben. Vielen Dank.
 
Herzlichst, Ihr Hartmut Hänchen
 
P.S.: Sollten Sie mal Sägeblätter brauchen, mache ich Ihnen einen Sonderpreis.
 
JH7-06
Schlaflos in Benrath