Julia Hagemann
 
 
 
 
Die Frau erwartete uns an der offenen Wohnungstür. Nackt. Sie trug nur Brille, Haarspangen und rosa Plüschlatschen.
Hedi, Roswitha und ich zuckten etwas zurück und warfen uns aus den Augenwinkeln einen Blick zu.
"Halloooo?", sagte die Frau. "Herzlich Willkommen? Ich bin die Gerlinnde? Kommt doch rein und legt gleich aab?" Sie sprach sanft und rauchig und schien eine ausgesprochene Abneigung dagegen zu haben, die Stimme zu senken. Alles an ihr war so weich wie ihre graublonden Locken, und sie benutzte rosa Labello.
Ich gebe zu, dies war der Moment, wo wir wohl alle drei überlegten, wieder zu gehen. Aber die Neugier siegte. Wir drängten uns schweigend in den Flur und fanden uns gleich darauf in einem Nebenraum mit Flokati-Teppich, wo wir uns aus unseren Klamotten schälten. Aus allen.
"Socken behalt ich an!", sagte Hedi mit einem Blick auf den Flokati. Roswitha nickte und zog ihre pink leuchtenden Ballettschläppchen aus der Tasche. Ich stieg fröstelnd in meine Saunalatschen. Gemeinsam tapsten wir den Flur entlang auf eine Tür zu, hinter der verhaltenes Gemurmel zu hören war.
 
Haben Sie schon einmal eine Tür geöffnet, so eine kassettierte, hohe, hölzerne Altbautür, und sich dann in einem cremefarbenen Raum mit cremefarbenen Bildern an den Wänden wiedergefunden, in welchem ein gutes Dutzend Frauen unterschiedlichsten Alters und Körperbaus unbekleidet bis auf Tennissocken, Nylons oder Hausschuhe, Brillen und Ohrringe auf Meditationskissen hockten, die mit geblümten Frotteehandtüchern abgedeckt waren?
"Wie die Maden!", flüsterte Hedi, und Roswitha gluckste. Die beiden sind unmöglich. Aber was war ich froh, dass ich nicht alleine hier stand.
'Die Gerlinnde?' sah uns scharf an und sagte dann wahnsinnig liebevoll: "Soooo? Ihr seid die letztenn? Kommt rein, damit wir mit dem Seminaar anfangen können?"
Wir krochen auf die drei freien Kissen. Roswitha glotzte die "nackten Weiber", wie sie später immer sagte, ungeniert an. Ihre Mundwinkel zuckten andauernd.
Ich glaube, 'die Gerlinnde?' machte das etwas nervös. Sie hielt eine kurze Ansprache darüber, dass wir unser Frausein feiern wollten? und alten Wunden die Gelegenheit geben wollten zu heilen? oder so. So genau habe ich nicht hingehört, ich gebe zu, ich war auch mit Gucken beschäftigt.
Die eine war nur ein Haufen Falten, eine andere hing rechts und links vom Meditationskissen runter, und ich fragte mich, ob es ihr zu peinlich gewesen war, sich zwei zu nehmen. Einer anderen standen die Knochen wie Zahnstocher hervor.  
Der Reihe nach versuchte ich ihre Lebenssituationen und Berufe zu erraten. Gar nicht so einfach ohne Kleider. Eine Mittelalte mit Billig-Uhr, missglückter Dauerwelle und grober Haut stellte sich gerade als 'die Lodde' vor und erzählte von ihrem "Dschopp bei Wollwodd".
Eine vertrocknete mit struppigem Kinderhaarschnitt hieß Elise und arbeitete "innar Buchantlunk, appar ich sahk jetzt nicht, in welchar", und fühlte sich dort auch "als Frau so übarhaupt nicht wähtgeschätzt". Sie hatte eine weinerliche, durchdringende Stimme, die gut zu ihrem Haarschnitt passte.
Eine Mittfünfzigerin, die auf Ende zwanzig geliftet war (und zwar nicht nur im Gesicht, ich schwörs!), sagte gerade: "Moin Monn sogt ümmer, koin Rüsüko üst zu groß für eune onstöndügö Schönheutsopörotion.", und 'die Gerlinnde?' nickte verständnisvoll und sagte: "Es ist dir sehr wichtig, gut auszusehen, nicht wahr?"
"Sölbstvörstöndlüch!", sagte die Frau, die sich als Gunhüld vorgestellt hatte. "Moin Monn sogt, ob euner böstümmten Eunkommensklosse gübt es keune Öxcüsen möhr für eune ungepflöhgtö Örscheunung." Und sie sah über den schwarzgoldenen Bügel ihrer Dior-Brille zur  Lodde rüber. Die verschränkte die Arme und sah auf eins der cremefarbenen Bilder.
 
Eine junge Frau namens Hanna hatte einen faustgroßen Schmetterling auf die rechte Brust tätowiert, und ich hatte Schwierigkeiten, nicht immer hinzusehen, ob er nicht endlich mal die Flügel bewegte. Sie bemerkte es und grinste mich frech an. Ich grinste zurück. Endlich ein normaler Mensch hier in dieser Runde, in der jede einzelne ihre Vorstellung damit begann, dass sie "auch Schwierigkeiten mit ihrer Frauenrolle" habe und dann mit Details unerfreulicher Kindheiten und uninteressanter Arbeitsbedingungen zu punkten versuchte.
Hedi sagte: "Also isch bid dä Hedi ud hab zwa idzwisched Schdupfed aba keide Problebe bit beida Frauedrolle."
"Deine Frauenrolle hängt dir aufe Hüften!" kicherte Roswitha.
Hedi hatte auf der Herfahrt keine Spur von Erkältung gehabt, und dieser Raum war sicher 25°C warm.
"Sooo?", sagte 'die Gerlinnde?' und ignorierte Roswitha. "Na, da hast du aber Glück? Magst du uns denn erzählen, was für eine Beziehung du zu deinem Vater hattest?" Sie schien wild entschlossen, auch Hedi ein Problem nachzuweisen.
"Och, priba!", sagte Hedi. "Er hat sisch ibber als Krübelbodster verkleidet oder als Badd ib Bohd. Ud er bochte udgebackeded Kuchedteig bit Rubb-Aroba. Und sabbelte egglische Bädderparfögs."
"Hör auf!" quietschte Roswitha. "Ich fall sodst vod beidebb  Beditatiodskissed!"
"Nä wiaklich!", sagte die Überhängende, die sich bis jetzt noch nicht geäußert hatte. "Ich glaube, ia nehmt dat hia nich eanst."
"Dee, dich wiaklich", sagte Hedi, und Roswitha bekam einen ihrer Lachanfälle, bei denen nur ein Erdbeben sie stoppen kann.
Fünf Minuten später fanden wir uns draußen auf der Straße wieder, notdürftig angekleidet und immer noch kichernd. Wir winkten zum ersten Stock hoch, wo wir  den Gruppenraum vermuteten. Die Maden zeigten sich nicht am Fenster.
"Schade", sagte ich. Ich hätt schon gern gewusst, wie ich die Schwierigkeiten mit meiner Frauenrolle in den Griff kriege."
Und dann gingen wir Torte essen und feierten unser Frausein.
 
 
Julia Hagemann 20.3.07
Unter Maden
Montag, 18. Juni 2007