Julia Hagemann
 
 
 
    Fräulein Ernestine Hübner stand, in einer Hand ein kleines schwarzes Buch, die gescheitelten Haare wie zu Lebzeiten zum flachen Knust gesteckt und um den knittrigen Hals einen schmalen weißen Kragen, vorm Himmelstor und suchte durch Eulenbrillengläser nach der Klingel.
    Sie sah wirklich nicht aus wie ein Huhn, nein, das zu behaupten war schon immer ebenso bösartig wie unpräzise gewesen, sie hatte nur diese für eine unbefiederte Dame etwas ungewöhnlich anmutende Art, das Kinn von Zeit zu Zeit mit einem kurzen Ruck nach links zu werfen, so dass der Kopf für einen Moment schräg stand und dann gemächlich in seine senkrechte, allzu senkrechte Lage zurücksank, eine Angewohnheit, die, wie seltsam sie auch an einem menschlichen Kopf wirken mochte, doch ihrer schon vor Jahren dahingegangenen Lieblingshenne Augusta Charlotte, von welcher sie sie, ohne es zu merken, übernommen haben mochte, vorzüglich zu Gesicht gestanden hatte.
    Ernestine Hübner war es nicht gewöhnt, vor verschlossenen Türen warten zu müssen, und ließ, da sie keiner Türglocke ansichtig wurde, ein dünnes Hüsteln erklingen. Es rührte sich nichts. Es herrschte sozusagen himmlische Ruhe. Sie erwog schon, einfach um das Tor herumzugehen denn der Himmel ist ja bekanntlich nicht eingezäunt, das wäre bei einem Gebiet unendlicher Größe viel zu teuer, aber es kam ihr unrecht vor, und zudem meinte sie, sie habe sich doch wohl auch durch ihren Lebenswandel das Recht erworben, wie alle guten Christen dereinst durchs Himmelstor einzugehen, empfangen von Petrus und unter dem Jubel der Cherubim mit Psalter und Harfen.
    Sie ruckte das Kinn zur Seite, drückte das schwarze Büchlein in ihrer Linken und hob gerade die Rechte, um ans Tor zu klopfen, als die beiden gewaltigen von Tilman Riemenschneider zu einer opulenten Auferstehungsszenerie gestalteten Eichenflügel majestätisch und leise quietschend nach innen schwangen.
    "Man sollte doch meinen, dass das Himmelstor nicht quietscht!", sagte Fräulein Hübner missbilligend. "Man hört ja die Cherubim kaum."
    "Rein!", sagte der glattrasierte ältere Herr mit dem Schlüssel, der den Pfortendienst versah, und warf nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf die Kandidatin. Er musste nicht nach den Überweisungspapieren fragen. Damen, die so aussahen, kamen von jeher immer in den Himmel. Was sollten sie auch unten? Luzifer hatte eine Heidenangst vor ihnen. Und wer wollte es ihm verdenken?
     "Komm rein!", brummte er noch einmal, weil die Dame mit dem Büchlein sich nicht von der Stelle rührte. "Oder verkaufst du bloß Zeitschriften? Wir brauchen keine."
    "Nein, nein", sagte Fräulein Hübner. "Ich dachte bloß, Petrus müsste ... ist der nicht da?"
    "Seit der Bart ab ist, meckert jeder.", sagte Petrus. "Ich hatte einfach die Nase voll. Und den Mund. Immer das Gefussel. Und in den letzten Wochen sind hier so viele Friseure mit allergischem Schock angekommen, dass es praktisch nix mehr kostet, sich rasieren zu lassen. Also, was ist jetzt, kommst du trotzdem rein? Hier duzen sich alle, ist dir doch recht, oder?"
     "Ich habe in meinem Leben noch keine fremden Herren geduzt!", sagte Fräulein Hübner und warf das Kinn nach links, dass es knackte.
    "Na, musste ja nicht.", sagte Petrus. "Aber komm schon, die Cherubim sind gleich durch, und mehr als eine Strophe spielen die nicht pro Neuankömmling. Da passt die Gewerkschaft auf."
    "Die Cherubim sind in der Gewerkschaft?", sagte Fräulein Hübner entsetzt und trat einen sehr zögernden Schritt über die Schwelle.
    "Ja, natürlich. Du wirst schon noch merken, was für Schwielen an den Fingern  man von vierzig Stunden Harfespielen kriegt. Ich bin zum Glück bei der Musterung durchgefallen. Kann 'ne Quarte nicht von 'ner Türklinke unterscheiden. Das ist auch der Grund, warum es manchmal so lange dauert, bis ich das Tor aufkriege. Dann steh ich davor und singe." er lachte übertrieben laut. "Hier.", er zeigte nach links. "Auf Wolke zwölf ist noch ein Platz frei. Schön nah beim Orchester. Kannst dich ein bisschen frisch machen, dein Buch ins Regal räumen und mit ein paar anderen Bekanntschaft schließen. Vielleicht triffste ja alte Freunde. Um sieben gibts Essen.  Wolke achtundvierzig bis einundfünfzig. Chiliburger Royal TS Menü."
    "Wie bitte?", rief Fräulein Hübner, die jetzt wirklich totenbleich aussah. "Chiliburger? Ich bin seit Jahren (seit dem Heimgange meiner lieben Augusta Charlotte) Veganerin. Aus Überzeugung. Ich bin davon ausgegangen, hier würden ausschließlich Nektar und Ambrosia gereicht."
    "Nix.", sagte Petrus. "Wir haben Los Wochos. Wie immer Anfang des Monats in geheimer Wahl abgestimmt. Obwohl ich glaube, dass da welche ihre Wahlzettel fälschen. Aber mir solls egal sein. Als damals der Chef zu uns gesagt hat, was ich kann, das könnt ihr auch, bloß besser, oder so ähnlich, hab ich so lange geübt, bis ich das mit dem Wasser zu Wein raushatte. Chiliburger zu Bouillabaisse ist ein bisschen schwieriger, geht aber auch."
    "Ja, aber Nektar und Ambrosia ...", begann Fräulein Hübner.
    "Ich weiß.", sagte Petrus. "Steht noch in allen Prospekten drin. Keine Ahnung, wieso die das nicht ändern. Wahrscheinlich, damit das Gesundheitsministerium nicht mitkriegt, was hier läuft. Obwohl es ja keine Rolle mehr spielt, wenn mans genau bedenkt."
    "Aber Burger!", protestierte Fräulein Hübner.
    "Ja, ich weiß schon," sagte Petrus, "von himmlischer Speise kann man da wirklich nicht sprechen. Aber was willst du machen? Seit ihr auf Erden die Demokratie erfunden habt, haben die hier oben so lange gequengelt, bis sie sie auch gekriegt haben. Seitdem ist es unerträglich. Endlose Vorstandssitzungen und Ausschusstagungen und Delegiertenwahlen. Als ob das nicht reicht, dass sie meinen früheren Job als Stellvertreter auf Erden alle paar Jahre durch Wahlen neu besetzen, immer wenn wieder einer in der Ausübung seines Amtes draufgegangen ist. Nee, neulich kam auch noch einer und wollte im Plenum diskutieren, ob man meine Pförtnerstelle hier nicht einer größeren Delegation übergeben sollte. Weil das angeblich mehr hermacht. Hat sich aber keiner gefunden, der scharf drauf gewesen wäre. Zu viel Arbeit. Nee, aber immer Nektar und Ambrosia, das wird wirklich eintönig, glaub mir."
    "Ja, aber ich habe doch extra nach Rezepten gesucht.", meinte Fräulein Hübner und schlug ihr schwarzes Büchlein auf. "Hier, sehen Sie: Ambrosia kurzgebraten mit lauwarmer Nektar-Vinaigrette. Nektarklöße mit Ambrosiafüllung. Belegte Ambrosiacracker. Mousse Nectáre ... Da kann man doch so viel machen, wenn man sich etwas Mühe gibt."
    "Schon.", sagte Petrus. "Das will bloß keiner. Und schon gar nicht, seitdem es hier den McDonalds FlyThrough gibt. Und was meinst du, was hier los ist, wenn in irgendeiner Stadt ein Pizzataxi verunglückt? Dann stehen hier dreihundert Leute am Empfang. Mindestens. Und die Enttäuschung dann immer, wenn der Fahrer wieder Moslem war und durch den andern Eingang muss ..."
    "Wollen Sie damit sagen, dass Moslems tatsächlich nicht in den Himmel kommen?"
    "Doch, natürlich, alles dasselbe Elysium, wir haben nur verschiedene Tore gemacht, damits keinen Streit gibt. Das für die Moslems ist ohne bildliche Darstellungen, zum Beispiel. Und Pfortendienst hat da meistens Muhammed selbst mit son paar Stewardessen."
    "Ja, aber, dieser Himmel hier, ist der für Moslems denn nicht eine furchtbare Enttäuschung?", frage Fräulein Hübner und sah sich um.
    "Na ja, was denkst du?", fragte Petrus zurück. "War ja wohl auch nicht, was du erwartet hast, oder?"
    "Nun ja, aber die Moslems", meinte Fräulein Hübner und errötete ein wenig, "erwarten die nicht alle siebzig Jungfrauen und so?"
    "Aus und vorbei, Muckelchen!", lachte Petrus. "Aus und vorbei. Seitdem wir das Jungfrauenwahlrecht eingeführt haben, ist das vom Tisch. Auch was, was sie in den Prospekten noch nicht geändert haben."
Fräulein Hübners Mundwinkel zuckten ein wenig, dann rückte sie sich die Brille zurecht und sagte streng: "Lassen sie diese Anrede, Herr Petrus. Ich heiße Hübner, Ernestine Hübner, Dortmund."
    "Schuldigung.", sagte Petrus. "Ist mir nur so rausgerutscht. Du gefällst mir eben. Und wenn du wirklich keinen Burger willst, lass ich dir noch was von dem Schafskäse von vorgestern in die Pfanne hauen. Da hatten wir griechisch."
    Fräulein Hübners Gesichtsfarbe war noch dunkler geworden. "Käse ist auch nicht...", begann sie und hob dann die Schultern. "Ach, egal. Ist er wenigstens aus dem Reformhaus?"
    "Reformhaus?", brüllte Petrus. "Niemals. Wir sind hier stramme Katholiken."
    "Ich nicht!", sagte Fräulein Hübner. "Mein Vater war Pfarrer. Uniert, aber im Herzen Lutheraner."
    "Son Mist!", sagte Petrus. "Dann bist du doch durch die falsche Tür reingekommen. Ich hatte gleich das Gefühl, dass da was nicht stimmt, weil die Klingel nicht ging. Für die Lutheraner ist eigentlich die Tür ohne Schnitzerei. Nicht meckern, Erni, die für die Calvinisten ist aus ungehobelten Bauzaunbrettern. Na egal, drin ist drin, auch wenns nicht rechtmäßig war.
    Nee, warn Witz, Muckelchen. Bist hier schon richtig. Wir freuen uns, dass du da bist. Die Tochter von Pastor Hübner, das ist 'n Ding. Wir haben ihn immer nur den "Zeigefinger" genannt, weil er immer mit erhobenem Zeigefinger auf Missstände hingewiesen hat. Aber sonst 'n netter Kerl. Ist aber schon wieder unten zur nächsten Runde.
    Red ich dir eigentlich zu viel? Gabriel sagt das immer. Er sagt, dass ich die Leute gleich beim Reinkommen totquatsche, und dass sich manche wünschen würden, sie wären gar nicht hier gelandet. Er behauptet ja immer, er hätte eine Engelsgeduld, aber ich finde, er übertreibt da ziemlich. Nee, aber du kannst echt prima zuhören, Erni, Mädchen, das find ich sympathisch. Diese Erzengel sind sowas von überheblich manchmal. Meinen, sie wüssten alles besser. Demnächst behauptet er noch, ich sei deine Todesursache gewesen. Vielleicht hat er recht, Mädel, du siehst ganz elend aus. Was ist denn?"
    "Entschuldigen Sie, Herr Petrus," flüsterte Fräulein Hübner mit Augen groß wie hartgekochte Eier. "was meinten Sie mit ,unten zur nächsten Runde'?"
    "Ach so, das.", sagte Petrus. "Steht auch noch falsch im Prospekt. Weißt du, wir haben hier mit der Zeit ein paar Probleme mit der Bevölkerungsexplosion gekriegt. Ist zwar unendlich groß hier oben, wurde aber auch irgendwann unendlich unübersichtlich, und einige der Parteien hier haben schon immer geschrien, die Arche ist voll, und so, und da haben wir dann beschlossen, die Aufenthaltsgenehmigungen für hier oben auf fünfzehn Jahre zu begrenzen. Wer dann nicht freiwillig geht, wird abgeschoben.
Dein Pa hat ziemlich geschimpft, weil er meinte, Reinkarnation, das sei ein unchristlicher Gedanke, aber irgendwann fiel ihm wieder ein, dass er als Student die apokryphen Evangelien gelesen hat, wo das noch nicht rauszensiert war, und da ist er dann ganz friedlich von uns gegangen. War 'ne schöne Beerdigungsfeier. Aber wenn du Augusta Charlotte sehen willst, die ist auf der Hühnerwiese."
    "Meine Augusta Charlotte?"
    "Jo. Bringt den Batteriehennen das Scharren und Sandbaden bei. Die armen Viecher haben ja von nichts ne Ahnung, wenn sie hier ankommen.“
        
    JH 2-07
 
 
Eine Veganerin im Himmel (Romanfragment)
Sonntag, 17. Juni 2007