Julia HAgemann
 
 
 
Napoleon schwitzt, beißt die Zähne zusammen und rührt in der Luft. Er schiebt Luftmoleküle nach rechts. Er schiebt Luftmoleküle nach links. Er drückt sie nach oben, wedelt sie von sich weg und knetet sie durch. Er schlägt einige Moleküle mit der flachen Hand platt. Das Orchester antwortet mit einem gewaltigen Akzent. Napoleon lässt die Finger durch die Luft flattern, die Geigen tremolieren pianissimo; die zweite Oboe erhält einen winzigen Wink und spielt einen Halbtonseufzer.
Von außen betrachtet sieht es so aus, als ob Napoleon bestimmt, was passiert. Die Reaktionen sind prompt, im Normalfall. Wenn nicht, fasst Napoleon den säumigen Rekruten streng ins Auge und zerschlägt stellvertretend ein paar Luftmoleküle. Das hat für gewöhnlich die gewünschte Wirkung.
Napoleon schreit nicht, das hat er nicht nötig. Wie ein Taubstummer gibt er seine Befehle durch Gesten. Wie bei Taubstummen sind diese für Uneingeweihte größtenteils unverständlich, aber sehr dekorativ.
Je stärker er rührt und schwitzt, desto heftiger ist gewöhnlich der Applaus des Publikums. Unabhängig davon, wie korrekt die Reaktionen des Orchesters waren.
Für das Publikum hat Napoleon das Stück erschaffen, die Akzente und Tremoli an die richtigen Stellen verwiesen, seine ganze Seele dem ergriffenen Publikum offenbart.
Napoleon ist Künstler, Schöpfer, Befehlshaber.
Allerdings ist Napoleon auch Handlanger, Botenjunge, Marionette, in diesem Fall Gustav Mahlers, der, wiewohl längst verstorben, mittels seiner Partitur vom Himmel aus die Fäden zieht und Napoleon und seinem Heer jede Note, jedes Decrescendo und jeden Tempowechsel auf Genaueste vorschreibt. Sie laufen ab wie ein Uhrwerk, Napoleon ist bloß ein Rädchen. Oder vielleicht die Unruhe. Organisator allenfalls.
Er hat Mahlers Willen dermaßen genau in seinen Gehirnwindungen untergebracht, dass er die kompletten 90 Minuten lang jeden Taktwechsel und jeden Glockenspieleinsatz geben kann, ohne auch nur ein einziges Mal zu überlegen oder in die Partitur zu schauen.
Wie muss ein Gehirn beschaffen sein, das mit einer solchen Vollkommenheit und Zuverlässigkeit den bombastischen, egomanischen, an Komplexität kaum zu überbietenden Seelenerguss eines ihm völlig Fremden zu speichern und zu reproduzieren in der Lage ist?
Und dabei wäre Napoleon vermutlich nicht fähig, auch nur die Triangelstimme selbst richtig zu spielen. Setzen Sie ihn an die dritte Posaune oder an die Harfe, und er wird jämmerlich versagen.
Er kann die Musik organisieren, aber nicht mitspielen.
Welche Tragik, dass er, der das Stück am besten von allen kennt, als einziger auf dem Podium den ganzen Abend keinen Ton von sich geben darf. Selbst den Beckenspieler hört man - selten, aber deutlich - Napoleon nicht. Er ist stumm und muss sich durch die Sprache seiner Gesten verständlich machen.
Mahlers Wille fließt aus der in Napoleons Gehirn gespeicherten Partitur in seine Hände, die ihn Luftmoleküle schiebend dem Orchester begreiflich machen, welches ihn dann vorträgt.
Eine Art Stille Post.
Allerdings nicht so still.
Das Orchester hat Mahlers Willen nur auf dem Papier. Und jeder nur einen winzigen Teil davon. Der Piccoloflötist könnte seine gesamte Stimme von vorn bis hinten mit  aller Innigkeit irgendwo in der Fußgängerzone blasen, es hätte mit Mahlers Willen kaum etwas zu tun. Schon weil er zu neunzig Prozent Pause hat.
Mahler braucht die vereinten Anstrengungen von zweihundertfünfzig Spezialkräften und einem Napoleon, um seinen Willen hörbar zu machen.
 
Möglicherweise wäre, wenn alle Mitwirkenden gemeinsam begännen und genau nach Plan spielten, Mahlers Wille auch ohne Napoleon zu vermitteln. Für das Publikum wäre das eine erschreckende Erfahrung. Eine Kutsche, die ohne Kutscher um die Ecke biegt, ein Auto, das ohne Chauffeur einen Slalomparcours fährt.
Und deshalb steht Napoleon als Mahlers Stellvertreter auf Erden Abend für Abend auf seinem Sockel, rührt Luft und Publikum und lässt sich bejubeln wie der Papst persönlich.
Ist er ja auch. Mahlers Papst.
 
 
Eroica
Sonntag, 24. August 2008