Julia HAgemann
 
 
 
 
Als Hubertus Feidt das Zimmer 7 des Hotels Central betrat, zog er zunächst eine Augenbraue in die Höhe, dann aber musste er grinsen: Die beiden letzten Male in Düsseldorf hatte er zunächst im Breidenbacher Hof logiert, dann im Interconti. Und nun diese Absteige. Wunderbar: die perfekte Tarnung. Nachdem er sorgsam die wenigen Kleidungsstücke aus seinem Pilotenkoffer im muffigen Kleiderschrank verstaut und den Inhalt des Kulturbeutels auf der Ablage im Bad aufgereiht hatte, rückte er den kleinen wackeligen Tisch ans Fenster, hing seinen Lodenjanker über den Stuhl, setzte sich und öffnete die angegilbten Vorhänge einen Spalt, sodass er gute Sicht auf die Straße vor dem Hotel hatte, ohne selbst gesehen zu werden. Wie auf einem Hochsitz. Nur, dass diesmal die Beute dem Jäger auflauerte: Wolf Zerber, Wirtschafts-Journalist. Unter seinesgleichen galt der penible Rechercheur als Fuchs – unter Feidts Vorstandskollegen als Zecke.
Sie waren einander im letzten Jahr auf einem Presseball vorgestellt worden. Als Erstes war Feidt der überheblich-höhnische Blick Zerbers aufgefallen. Als Zweites der Leberfleck am Kinn, der in seinen Ausmaßen schon eher einer Rosine glich. Er hatte sich zwingen müssen, nicht darauf zu starren. Sie hatten einen Drink zusammen genommen, ein paar höfliche Belanglosigkeiten ausgetauscht und sich dann wieder anderen Gästen zugewandt.
Erst vor ein paar Monaten war Wolf Zerber wieder in das Leben von Hubertus Feidt getreten. Feidts Sekretärin hatte ihn durchgestellt, er berief sich auf ihre Begegnung und schilderte ihm sein Projekt: Er arbeite für ein Wirtschafts-Magazin an einer Serie über bedeutende Persönlichkeiten in den Vorstands-Etagen. Er habe dabei auch an ihn gedacht. Ob man sich nicht einmal zum Gespräch treffen könnte. Feidt fühlte sich geschmeichelt. Zumal er zwar Vorstandsmitglied eines großen Montan-Unternehmens war, dennoch eher in zweiter Reihe stand, was den öffentlichen Glanz betraf. Er bat um Bedenkzeit, da das Ganze ja auch intern abgestimmt werden musste. Später hatte er grünes Licht bekommen, aber auch den Rat, auf der Hut zu sein.
Heute war er es, der Wolf Zerber anrief. Er hatte sich im Hauptbahnhof ein Handy mit SIM-Card unter falschem Namen gekauft. So konnte man ihn über das Netz nicht identifizieren. Auch an der Rezeption hatte er unter einem Pseudonym eingecheckt. Seiner Familie hatte er einen Segeltörn ohne Handy-Empfang als Alibi für dieses Wochenende serviert. Zerber ging sofort ran. Mit verstellter Stimme beorderte Feidt ihn ins Hotel Central, Zimmer 7. Ein wichtiges Indiz für seine Story, mehr könne er am Telefon nicht sagen, höchste Eile sei geboten – dann unterbrach er die Verbindung. Feidt hörte den eigenen Puls in seinen Ohren schlagen. Mit leicht zitternder Hand schaltete er das Handy aus. Der Köder war gelegt. Er kannte Zerber. Er würde allein kommen. Er würde niemandem etwas erzählen, schon aus Angst, ein Anderer könnte die Fährte aufnehmen. Und wenn er erstmal hier wäre, würde Feidt ihn vor die Wahl stellen: Die beachtliche Summe, die Feidt in den letzten Tagen aus den unterschiedlichsten verschwiegenen Quellen zusammengetragen hatte hier und jetzt bar. Oder Feidt würde Zerber die Pistole auf die Brust setzen. Und zwar buchstäblich. Er ging zum Schrank und holte die in ein Tuch gewickelte Walther PPK aus dem Seitenfach seines Koffers. Er packte sie aus, breitete das Tuch auf den Tisch, entriegelte das Magazin, ließ es in seine Hand fallen und begann, die Waffe auseinanderzunehmen. Es war die Dienstwaffe seines Vaters, jenes strengen, schweigsamen Mannes, der ihn mehr mit seinem zwingendem Blick als mit Worten zu Gehorsam erzogen hatte. Viele Wehrmachts-Offiziere hatten sich die handliche und elegantere Walther zugelegt, statt der vorgeschrieben 08 von Luger. Selbst der Führer hatte sich mit einer PPK in den pomadisierten Schädel geschossen, weil er dem Zyankali allein nicht traute. Für Feidt war sie nicht nur als Andenken wertvoll – sie war nicht registriert. Er reinigte die Waffe, wie er es als Kind von seinem Vater gesehen hatte, und baute sie wieder zusammen. Schließlich entnahm er dem Magazin die oberste Patrone drehte sie kurz in seinem rechten Ohr, steckte sie zurück und schob das Magazin in die Waffe. Die so gefettete einzelne Patrone genügte einem guten Schützen wie ihm.
Ein Wehrmachts-Offizier zum Vater. Gleich bei ihrem ersten Interview war Zerber damit angekommen. Feidt hatte als Treffpunkt für ihre Gespräche eines der Separees des Vorstands-Kasinos bestimmt. Man war unter sich, aber auf seinem Territorium. Natürlich war ein Familienoberhaupt mit Ritterkreuz ein gefundenes Fressen für einen ehemaligen Klassenkämpfer wie Zerber. Schon hier bei ihrem ersten Treffen merkte Feidt, dass die Sache nicht in die Richtung lief, die er sich vorgestellt hatte.
„Würden Sie sagen, Herr Feidt, dass das Weltbild Ihres Vaters Sie auch ein Stück weit geprägt hat?“
„Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Aber ich muss Ihnen sagen, dass nicht jeder gute Soldat auch automatisch ein guter Nazi war.“
„Natürlich müssen Sie.“
Und ja, diese distanzierte, stille Autorität seines Vaters hatte ihn selbstverständlich geprägt. Er hatte gelernt zu gehorchen, zu funktionieren. Im Gymnasium eher einsamer Streber, dafür mit exzellentem Abschluss. Selbstverständlich Militärdienst. Selbst-verständlich Offizierslaufbahn. Und während des Jura-Studiums Mitglied einer pflichtschlagenden Verbindung. Bei der er deutlich mehr Mensuren auf dem Paukboden geschlagen hatte als vorgeschrieben. Solange bis ein sauberer Schmiss seine linke Wange zierte.
Er hatte nie vorgehabt, all das gegenüber Zerber auszubreiten. Aber wie sich herausstellte, wusste dieser bei ihren Gesprächen ohnehin immer schon alles. Und immer alles besser. Denn Zerber war in ihren Gesprächen nicht auf der Suche nach Fakten. Vielmehr schien er Feidt herausfordern zu wollen, weidete sich an dessen Unbehagen, wenn er ihm neue intime Kenntnisse auftischte, die er eigentlich unmöglich hatte wissen können.
Hubertus Feidt spürte plötzlich ein verlangendes Hungergefühl. Seine letzte richtige Mahlzeit war das Frühstück gewesen und der Apfel, den er sich aus der Schale an der Rezeption mit aufs Zimmer genommen hatte, war wohl auch längst verdaut. Er blickte auf die Uhr: Viertel vor Zehn. Draußen war es längst dunkel – er konnte wohl wagen, seinen Posten kurz für einen Imbiss zu verlassen. Er zog seinen Janker, Schal und Lodenmantel an und zog den Hut tief ins Gesicht. Lauschte an der Tür. Nichts. Vorsichtig trat er auf den Gang. Die dämmrige Beleuchtung war gerade recht. Ohne jemandem zu begegnen, verließ er das Hotel. Er hatte bei der Ankunft in der Nähe einen Kiosk gesehen. Der hatte noch geöffnet. Er kaufte eine Bockwurst mit Brötchen und Senf, eilte zurück ins Hotel, verschwand in seinem Zimmer und bezog wieder seinen Platz am Fenster.
„Seltsam“, dachte er, „dass man immer das Gefühl hat, jemand oder etwas würde früher eintreffen, wenn man ihm nur entgegen sieht.“ Dabei wurde ihm schmerzlich bewusst, dass dies eine Mal, bei dem er etwas nicht hatte kommen sehen, nun imstande war, seine Existenz zugrunde zu richten.
Viel Zeit war nicht mehr. Wenn Zerber nicht bald erschiene, würde das Schicksal unweigerlich seinen Lauf nehmen. In wenigen Stunden würden die Druckerpressen anspringen. Dann war nichts mehr rückgängig zu machen. Wolf Zerber würde mit seinen Enthüllungen triumphieren und damit sein Ansehen, die Liebe seiner Frau und seiner Kinder, seine Zukunft, einfach alles niederreißen.
Trotz aller Warnungen hatte Feidt den Spürhund weit unterschätzt. Dessen Fragen waren letztlich nur Kampfansagen, bei denen er stets neue Erkenntnisse durchscheinen ließ. „Wie wichtig war und ist das Geflecht von Beziehungen, das Sie augenscheinlich unterhalten, für Ihren Werdegang?“
Was wusste Zerber über seine Beziehungen? Wen kannte er? Welcher Quellen bediente er sich?
Feidts Vorliebe für verschworene Gesellschaften und elitäre Bünde war in der Burschenschaft geweckt aber längst nicht gestillt worden. Die Beziehungen, die er schon hier entwickelt hatte, machten sich später für die Karriere bezahlt. Diese Erfahrung hatte ihn immer weiter in die nach außen nicht immer sichtbaren Kreise der Macht streben lassen. Ein oder mehrere Fürsprecher hatten sich stets aus seinen bestehenden Verbindungen gefunden. Waren es zunächst wohltätige aber auch dem eigenen Nutzen hilfreiche Gruppierungen, so wurden die Gesellschaften mit den Jahren und der eigenen steigenden Bedeutung stets geheimer und auch mächtiger. Auch die Protokolle und Riten waren zunehmend bizarrer geworden.
Bis zu dieser schicksalhaften Nacht vergangener Woche. Ein Bürge, dessen wahre Identität nicht einmal Feidt selbst bekannt war, hatte ihm den Zugang zu diesem Zirkel ermöglicht. Man traf sich in verborgenen Katakomben und trug schwarze Augenmasken, um die Anonymität zu wahren. Außerdem Frack. Natürlich ohne Orden, was Feidt bedauerte. Schließlich war diese formellste Bekleidung immer die beste Gelegenheit, sein Verdienstkreuz offiziell zu tragen. „Wer kein Verdienstkreuz hat, hat die falschen Freunde.“ wie ein Geschäftsfreund ihm einmal vielsagend geraten hatte. „Das Bundesverdienstkreuz wird erdient, erdienert oder erdiniert.“ war Zerbers herablassender Kommentar zu seinem Ehrenzeichen gewesen.
Nachdem er bei den vorangegangenen Zusammenkünften an verschiedenen Initiationsriten mit Unterschriften aus eigenem Blut und anderen geheimnisvollen Zeremonien teilgenommen hatte, war an diesem Abend das unaussprechliche Mahl angekündigt. Fünf Damen, zwar aus dem Milieu aber von der erstklassigen Sorte, hatten gegen fürstliche Bezahlung hierfür drei Wochen lang gefastet und sich anschließend drei Tage ausschließlich von Schokolade ernährt. Gerade als das Ergebnis serviert wurde, erblickte Feidt plötzlich die Rosine am Kinn eines der Maskierten. Der Mann lächelte maliziös und starrte auf seine linke Wange. Feidt spürte, wie sein Schmiss brannte. Er wurde panisch und umrundete den Tisch, um den anderen zu stellen, doch der war schon verschwunden.
Feidt schreckte hoch. Er musste eingenickt sein. Das kalte Morgenlicht fing sich im Novembernebel auf der Straße vor seinem Fenster. Wolf Zerber war nicht gekommen. Die Zeitschriften waren jetzt wohl frisch gedruckt und auf dem Weg in die Geschäfte.
Hubertus Feidt entsicherte die Walther.
 
 
 
Inkognito
von Heinrich Baryll
Diese Geschichte von Heinrich Baryll spielt im Hotel Central,
bekannt aus dem gleichnamigen Vorlesemusical